Mit dem E-Bike vom Bodensee zum Gardasee

Oder die Demokratisierung der Alpenpässe durch das E-Bike

Von Joachim Spengler, vorgetragen im Dorfgemeinschaftshaus Gunneby am 20. Februar 2025.

Guten Abend liebe Ulsniser und Nicht-Ulsniser, ich möchte Sie mitnehmen auf meine E-Bike-Tour vom Bodensee zum Gardasee – und noch ein wenig weiter.

TagDatumStartpunktStrecke
(km)
Anstieg
(m)
Pass/
Ort
Höchster Punkt
(m)
End-
punkt
Tipp: Ein Mausklick auf den Tag führt Sie direkt zur jeweiligen Route, ein Mausklick auf den Endpunkt zum Hotel auf Google-Maps.
120.6.2024D-Liggeringen58260Fähre von Konstanz nach Lindau394Oekotel Hohenems
Lustenauerstr. 108a
A-6845 Hohenems
221.6.2024A-6845 Hohenems52657Gasthof Stern
Dorfstrasse 37
A-6773 Vandans
322.6.2024A-6773 Vandans902.728Bielerhöhe2.037Hotel Sonne
Herzog-Friedrich-Str. 10
A-6500 Landeck
423.6.2024A-6500 Landeck782.456Reschenpass1.507Garni Sonne
Markgasse 12
I-39024 Mals
524.6.2024I-39024 Mals703.028Stilfser Joch2.757Hotel Residence 3 Signori
Via Venedig
I Santa Caterina Valfurva
625.6.2024I-23030 Santa Caterina Valfurva682.002Passo Gavia2.652Foresteria Giadino
Via Nazionale 74
I 25050 Paisco
726.6.2024I- 25050 Paisco582.616Passo Vivione
Passo Salven
1.828
1.108
La Casa di Clara
Via Alesandro Manzoni 38
I-25040 Esine
827.6.2024I-25040 Esine523.110Passo di Corcedomini
Giogo della Balla
Passo Maniva
1.882
2.129
1.664
Albergo al lago
Via lago 12
I-25070 Anfo
928.6.2024I-25070 Anfo40450Fähre von Salo nach Riva del GardaHotel Virgilo
Via Virgilio 21
I-38066 Riva del Garda
1029.6.2024I-38066 Riva del Garda662.152Stenico
Pinzolo
661
774
Hotel Pinzolo-Dolomiti
Corso Trento 24
I-38086 Pinzolo
1130.6.2024I-38086 Pinzolo2.082Passo Campo Carlo Magno1.663Horse House
Via Novembre 30
I-38028 Romallo
1201.7.2024I-38028 Romallo371.784Passo Castrin1.785Arosea Life Balance Hotel
Kuppelwies am See 355
I-39016 St. Walburg
Gesamt72923.325

Vom Bodensee zum Gardasee – und noch ein wenig weiter
Die Abbildung zeigt meine Tour vom Bodensee zum Gardasee – und noch ein wenig weiter.

Und damit kommen ich zur nicht gestellten ersten Frage: »Wie kommt ein Ulsniser auf die Idee, mit dem E-Bike über die Alpen zu radeln, wenn er ein Segelboot hat und die Schlei vor der Tür?«

Das ging eigentlich ganz einfach. Ich nahm ein Flugticket nach Buenos Aires, wanderte in Patagonien, lag abends im Zelt (s. Foto), schaute auf den Cerro Torre (s. Foto) und dachte: »Schon irgendwie bescheuert, du wanderst auf der Süd-Halbkugel, aber zu Fuß über die Alpen hast du es noch nicht geschafft«.

Cerre Torre

Cerro Torre
Der Cerro Torre

Nun zur zweiten Frage: »Welche Route soll ich über die Alpen nehmen?« Das ist schon etwas komplexer.

Es wurden schon Fußlappen, Elefanten, Pferde und Kutschen benutzt. Ötzi, Hannibal, Napoleon und Goethe haben es gemacht. Und alle Wege führen nach Rom, bekanntlich! Ich wollte nur über die Alpen.

Schauen wir uns doch einmal die bekanntesten Routen über die Alpen an. Beginnen wir im Osten, dort wo die Sonne aufgeht:

  • Alpe Adria, vom Großglockner nach Triest, 720 Kilometer, 43 Etappen
  • oder vielleicht den Klassiker, die Graßler-Route von München nach Venedig 550 Kilometer, 28 Etappen
  • oder doch lieber den überfüllten E5, von Obersdorf nach Meran, 115 Kilometer, sechs Etappen
  • oder die, mit der ich liebäugelte, von Bregenz nach Riva del Garda, 390 Kilometer, 30 Etappen
  • oder gleich die ganz große Nummer, den Via Alpina, von Triest nach Monaco, knapp 2.000 Kilometer, 110.000 Höhenmeter und 116 Etappen

In der Zwischenzeit gesellte sich ein E-Bike zu mir. Die Idee entwickelte sich weiter, zur Alpenüberquerung mit dem E-Bike.

Und nun zur Frage »Wie plant man so eine Fahrrad-Tour?«

Die erste Adresse ist der Routenplaner Komoot. Eine andere: Die Web-Seite für Alpenpass-Fresser hat den treffenden Namen quaeldich.de. Und natürlich Google vorwärts, rückwärts, seitwärts. Geholfen hat mir auch europaradtouren.de.

Mir fiel eine Rennrad-Route in die Hände, die von Bregenz nach Riva del Garda führte. Der Autor riss sie in fünf Tagen ab. Er fuhr 120 Kilometer pro Tag, das fand ich doch etwas heftig. Doch die Route hatte Charme und wurde meine Vorlage. Denn ich wollte

  • ca. 65 Kilometer pro Tag radeln, dass sind zwischen vier und fünf Stunden im Sattel,
  • das Hotel möglichst im Tal haben und
  • am Anfang und am Ende eine Bootsfahrt unternehmen.

Und so ergab sich die Route

  • von Konstanz über den Bodensee
  • durch den Vorarlberg
  • über die Bielerhöhe nach Tirol
  • über den Reschenpass in den Vintschgau
  • über das Stilfser Joch nach Bormio
  • über den Gavia Pass und durch die Lombardei
  • vom Lago D’Idro zum Gardasee
  • durch den Trientino
  • Endpunkt sollte das Ultental südlich von Meran sein

Ich plante jede Einzeletappe bestimmt fünfmal um. Auch hatte ich einige Alternativrouten abgesteckt. Die waren kürzer und leichter. Für den Fall das ich mich übernommen hätte.

Wie heißt es doch »mit dem Zweiten sieht man besser«. Ein Fenster mit dem Routenplaner TopoGPS, das andere für die Hotelsuche mit booking.com. Damit ich mit den Tagen nicht ins Schleudern geriet, hatte ich einen Zeitplan in Excel.

Alle Information, Etappen, Hotelbuchungen, Fahrpläne hatte ich in mein »Roadbook« zusammengefasst. Es sollte mir später auch als Tagebuch dienen. Und nun zur nächsten Frage: »Was brauche ich für so eine Tour?«

Ich wog alle Teile mit der Küchenwaage und erstellte eine detaillierte Packliste. Die habe ich so lange massiert bis etwa zwölf  Kilogramm übrig blieben, inklusive Wasser.

Auf was sollte man achten?

  • Wenn man in Italien durch Tunnels radelt muss man zwingend eine Warnwest tragen;
  • ganz wichtig – winddichte Handschuhe;
  • man braucht mindestens zwei Helmmützen; es ist ekelig nach einer Pause einen nasse Lappen aufsetzen zu müssen;
  • zwei Radler-Unterhosen, denn in einer Nacht wird die Radler-Unterhose nicht trocken;
  • Ladegerät mit mindestens 4 Ampere, sonst werden die Pause zu lang;
  • und Dinge wie Flickzeug, die man hoffentlich nicht brauchen muss.

Die Wäsche habe ich in durchsichtige Zipper-Beutel verpackt. Ganz wichtig: beschriften! Ich platzierte eine Visitenkarte am Fahrrad, falls ich einen Abflug in die Botanik machen sollte:

  • Name, Blutgruppe, und weitere technische Daten
  • Kontaktdaten meiner Tochter

Das tote Material haben wir nun beieinander. »Und wie bereitet sich das lebende Material darauf vor?« Fahrradfahren an der Schlei bringt Strecke aber kaum Höhenmeter. Zwei Fertigkeiten wollte ich unbedingt üben: Schalten am Berg unter Last und Bremsen bergab. Der Harz war die nächste Möglichkeit.

  • Die Tour von Schierke hoch zum Brockenhaus, ist ein guter Anfang, ca. zehn Kilometer lang, mit einer durchschnittlich Steigung von 7 Prozent in der Spitze sogar 15 Prozent. Man überwindet dabei ca. 560 Höhenmeter.
  • Die Abfahrt vom Brocken nach Ilsenburg ist sehr spannend, ca. 15 Kilometer lang, mit einem durchschnittlichen Gefälle von 7 Prozent, in Spitzen 20 Prozent. Eine reine Kieselstrecke. Schlaglöcher, die dick mit Kiesel aufgefüllt sind, erwecken Aquaplaning-Gefühle.

Somit war alles beieinander, die Route geplant, die Hotels gebucht und ich fühlte mich bereit. Doch da gab es noch ein klitzekleines Problem. Ende Mai, Anfang Juni war das Wetter im Alpenraum miserabel. Es gab Jahrhundertniederschläge mit bis zu 300 mm. Oben auf den Bergen ordentlich Schnee.

Das Stilfser Joch wurde geöffnet, dann fiel Schnee und die Schranke ging wieder runter. Ich habe Webcams kontrolliert und alle paar Tage das Touristenbüro angerufen. Und vor allem eins, ich habe gehofft.

Stilfser Joch am 2. Juni 2024
Stilfser Joch am 2. Juni 2024

So sah das Stilfser Joch am 2. Juni aus. Am Wochenende bevor ich aufbrach, wurde das Stilfser Joch endlich für Fahrräder geöffnet. Also, nun aber los!

Das Fahrad
Das Fahrad

Ich fuhr mit meinem VW Bus zum Bodensee, lud mein Fahrrad bei Freunden ab, fuhr weiter nach Südtirol und parkte meinen VW Bus bei einem Hotel. Mit dem Zug ging es über Innsbruck zurück in die Nähe von Konstanz.


1. Tag: Von Liggeringen nach Hohenems

1. Tag
Die Abbildung zeigt meine Tour am 1. Tag.

Am 20. Juni 2024 starte ich ausnahmsweise bereits um 7 Uhr. Normalerweise bin ich um 9 Uhr gestartet und war typischerweise gegen 16:30 im Hotel. Die Packtaschen waren gleich schwer. Das Ladegerät hatte ich griffbereit. Trinkblase, Müsliriegel sowie mein Roadbook waren in meinem kleinen Rucksack. Das Gesamtgewicht mit E-Bike lag bei knapp 40 Kilogramm, ohne mich.

Meine Routen waren in das iPhone und in die Bosch-App geladen. Zusätzliches Kartenmaterial hatte ich nicht dabei, das wären nochmal gut zwei Kilogramm mehr gewesen.

Die 25 Kilometer bis zur Bodensee-Fähre führten durch eine wohlhabende Gegend. Leicht erkennbar an der Haus- und Autogröße. Der Berufsverkehr setzte ein. Und ich musste bei den Grundstücksausfahrten acht geben, um nicht schon frühzeitig als Kühlerfigur zu enden.

Hochwasser am Bodensee
Hochwasser am Bodensee

Der Bodensee hatte Hochwasser von mehr als fünf Meter über Normal. Die Uferbereiche waren überschwemmt und Biergärten geschlossen. Zum Vergleich: Wenn die gesamte Menschheit in den Bodensee springen würde, stiege der Wasserspiegel nur um ca. einen Meter.

Während der Überfahrt von Konstanz nach Lindau war die Sicht schlecht. Weder Schweizer Berge noch kreisende Zeppeline waren zu sehen, nur tiefhängende Wolken. Die Fahrt dauert ca. vier Stunden und kostete 30 €. Die Fähre legt unter anderem in Meersburg und Friedrichshafen an.

Nachdem ich Lindau hinter mir gelassen hatte, radelt ich am Ufer des Bodensees entlang.

Im Vorarlberg
Im Vorarlberg

Im Vorarlberg ging es auf dem Damm des Alpenrheins weiter. Der Alpenrhein war randvoll und das Wasser hatte eine irre Fließgeschwindigkeit. Ich dachte nur, wo soll das ganze Wasser nur hin? – Na klar, in die Nordsee.

Auf der einen Seite des Damms Auenlandschaft auf der anderen Gemüseanbau und Kleingärten. Der Vorarlberg ist hochindustrialisiert. Die ursprüngliche Textilindustrie ist fast vollständig verschwunden, Metall- und Elektroindustrie dominieren. Eine unbekannte Firma ist Julius Blum. Doch fast jeder von Ihnen hat Beschläge von Julius Blum in seiner Küchen, vor allem wenn es eine Küche von Ikea ist.

Die Vorarlberger sind ein spezielles Volk und haben mit Rest-Österreich nichts am Hut. Nach dem 1. Weltkrieg gab es sogar eine Abstimmung zur Abspaltung und dem Anschluss an die Schweiz. Die Meinung zum Arlberg-Tunnel, der Tirol mit dem Vorarlberg verbindet ist: »Was Gott getrennt hat, soll der Mensch nicht zusammenführen«. Der Dialekt ist komplett unverständlich.

Mein Ziel war Hohenems. Eine völlig gestaltlos Siedlung. Das Oekotel, in dem ich übernachtetet, war eine Kreuzung aus Jugendherberge und Kaserne, öko eben. Mein abendliches Ritual war

  • Akkus abbauen – Zusatzakku laden, der braucht nur zwei bis drei Stunden;
  • Wäsche waschen – Duschen;
  • Essen gehen, danach sollte der Zusatzakku geladen sein;
  • Hauptakku laden, der braucht bis zu sechs Stunden;
  • Akkus abdecken, sonst beleuchtet die Ladeanzeige das ganze Zimmer – in den Schlaf finden.

2. Tag: Von Hohenems nach Vandans

Tag 2
Die Abbildung zeigt meine Tour am 2. Tag.

Es regnete in Strömen. Ich besuchte den Werkraum Bregenzer Wald, das lokalen Handwerkern und Kunsthandwerkern als Ausstellungs- und Verkaufsraum dient. Handwerkliche Tradition wird mit modernem Design verbunden:

Werkraum Bregenzerwald
Werkraum Bregenzerwald

Der Nachmittag war trocken und so radelte ich über Feldkirch und Bludenz nach Vandans. Immer am Alpenrhein und der Ill entlang. Ein leichter und stetiger Anstieg.

Abends sah ich in der Hotelbar das Fußballspiel Österreich gegen Polen. Österreich gewann bekanntlich mit 3 : 1. Ich lernte alle österreichischen Schimpfworte und Jubelschreie kennen.


3. Tag: Von Vandans nach Landeck

Die Abbildung zeigt meine Tour am 3. Tag.
Die Abbildung zeigt meine Tour am 3. Tag.

Am dritte Tag stand der erste Pass an. Zunächst ging es im Eco-Modus durchs Montafon immer an der Ill entlang, stetig bergan. Ich hatte mittlerweile auch meine Balance aus Geschwindigkeit, Trittfrequenz und Leistungsstufe gefunden.

Ab der Mautstelle beginnt die Silvretta Hochalpen-Strasse mit Ihren Serpentinen. Sie verbindet das Montafon mit dem Paznaun-Tal in Tirol. Sie gilt als eine der schönsten Strassen im Alpenraum und führt hoch zur Bielerhöhe und dem Silvretta-Stausee. Jetzt lagen noch ca. 1.000 Höhenmeter vor mir.

Die westliche Anfahrt zur Bielerhöhe ist 15 Kilometer lang, hat 32 Kehren und eine durchschnittliche Steigung von zwölf Prozent.

Anfahrt zur Bieler Höhe
Anfahrt zur Bielerhöhe

Ich war der einzige Fahrradfahrer. Auto- und Motorradfahrer winkte mir zu und ich dachte noch, was schönes Wetter doch ausmacht! Aber vielleicht lag’s ja auch an mir?

Bielerhöhe
Bielerhöhe

Schneller als ich dachte, erreichte ich die Bielerhöhe auf 2.032 Höhenmeter. Um ehrlich zu sein, ich hatte an gar nichts gedacht, nur: »Da musst du jetzt hoch.« Wenn der Puls auf 120 ist, man hechelt und kurbelt, dann verflüchtigen sich Gedanken, gute wie böse.

Es ist kein einzelner Stausee sondern ein ganzes System aus 15 Stauseen, Pumpspeichern und zwölf Kraftwerken. Der Bau wurde in den 30er Jahren begonnen und in den 50er Jahren abgeschlossen. Aktuell soll das System auf drei Giga Watt Gesamtleistung erweitert werden. Das entspricht einem Atomkraftwerk.

Sportlich bekannt wurde der Stausee durch die deutschen Ruderer. Angeregt durch die Erfolge der äthiopischen und kenianischen Langstreckenläufer bei Olympia, begannen die deutschen Ruderer 1966 dort mit dem Höhentraining. Der Erfolg stellte sich rasch ein. Wurde der Achter vorher auf dem Züricher Rotsee um Längen geschlagen so wurden er danach im gleichen Jahr Weltmeister.

Ich plante in Galtür zu übernachten. Galtür machte Schlagzeilen, als es im Februar 1999 durch Schneelawinen für mehrere Tage von der Außenwelt abgeschnitten war. 38 Menschen fanden den Tot.

Landeck
Landeck

Ich war bereits mittags im Ort und über Ischgl nach Landeck waren es nur 40 Kilometer bergab. Ich sagte mein gebuchtes Hotel ab und ließ es krachen. Ich bin die Hauptstraße mit etwa 70 Kilometer pro Stunde runter geschossen. Die Augen pendelten nach links und rechts, ich hielt Ausschau nach liegenden Polizisten, Gullydeckel, Schlaglöcher, sowie Sand und Steine in Kurven.

Während der Fahrt kann ich die Sattelhöhe absenken und somit auch den Schwerpunkt. Doch das wirkliche Problem ist Bremsen. Manuelles ABS – Stotter-Bremsen ist die Lösung. Nach dem ich genug Spaß hatte, begnügte ich mich mit 40 Kilometer pro Stunde.

Mit booking.com hatte ich schnell ein neues Hotel gebucht. Das nächste Mal würde ich mir die Strecken und Hotels genau so planen, jedoch das Hotel erst buchen, wenn ich weiß, dass ich mein Ziel auch erreichen werde.


4. Tag: Von Landeck nach Mals

4. Tag
Die Abbildung zeigt meine Tour am 4. Tag.

Ab Landeck folgte ich der Claudia Augusta. Dieser Alpenübergang stammt aus der Römerzeit und verband Augsburg mit Verona. Das Touristenbüro in Landeck, warnte mich vor den Serpentinen zum Reschenpass. Sie empfahlen mir den Bus zu nehmen. Doch, ich stieg aufs Rad fuhr los unter dem Motto »schau’ ma mal«. Die Route verläuft parallel zum Inn und steigt stetig an. Von Kilometer zu Kilometer verflog der Zweifel und der Mut brach sich Bann. Wie aus dem Poesiealbum, oder?

Claudia Augusta
Claudia Augusta

Aufkeimender Übermut wurde abgekühlt. Öfters musste ich anhalten, kehrte ein und wärmte die steif gefrorenen Finger am Cappuccino. Mit solchen Fingern kann man nicht Schalten, geschweige denn Bremsen.

Gasthof zum Thurm in Pfunds
Gasthof zum Thurm in Pfunds

Hinter Pfunds ist die Hauptstrasse wegen langer Tunnels für Fahrradfahrer gesperrt. Ich fuhr Richtung Martina in der Schweiz. Doch bevor es mit den Serpentinen los ging, nahm ich das schweizerischste zu mir, das ich kenne: heiße Ovomaltine und Toblerone.

Die Strecke ist ca. acht Kilometer lang, 520 Höhenmeter mit einer durchschnittlich Steigung von 8 Prozent. Obwohl ich vor den Serpentinen gewarnt wurde, erreichte ich Naunders in Österreich problemlos, abgesehen von Zwangspausen wegen Kälte.

Der Reschenpass selber ist nur 1.507 Meter hoch und unspektakulär. Bereits die Kelten kannten den Übergang, der eher eine Hochebene ist. Auch verläuft hier die Wasserscheide zwischen Schwarzen Meer und Mittelmeer, also Inn/Donau und der Etsch.

Reschenpass
Reschenpass

Es war lausig kalt, bei Außentemperatur von ca. zwei Grad im Juni. Immer wenn ich eine Pause machte, nutzte ich sie um den Akku zu laden. Es gab nie Schwierigkeiten. Hierbei ist es vorteilhaft, wenn man den Akku abbauen kann.

Der Reschensee wurde bereits unter Mussolini geplant und 1950 das erste Mal voll gestaut. Zwei Dörfer wurden platt gemacht und 100 Familien umgesiedelt. Nur der Kirchturm ist als Postkartenmotiv und Mahnmal übrig geblieben. 2024 war der Reschensee leer. Geröll, Sand und Schlamm das die Etsch über die Jahre eingetragen hatte, wurde ausgebaggert.

Reschensee
Reschensee

Die Strecke nach Mals war 22 Kilometer lang mit einem durchschnittlichen Gefälle von 6 Prozent. Die Strecke führt am südlich Seeufer vorbei und ist eine gewaltige Achterbahnfahrt: Kurven, Hügel und Gefäll wechseln sich ab. Es war eine riesige Gaudi.

Mals
Mals

In Mals traf ich abends zwei Berliner. Sie hatten mit ihren Rennrädern das Stilfser Joch erklommen und trugen vogelwilde Trikots. So ein scheußliches Trikot wollte ich auch haben. Mein Vorsatz war, so ein Trikot muss man sich erarbeiten – also war das geplante Bike-Taxi keine Option mehr.

Meine Beine hatten zwei Pässe gut bewältigt. Muskelkater spürte ich nicht. So ging ich meine Packtaschen durch und deponierte alles was entbehrlich war in meinem Hotel.

Zwei Tage vor Sommeranfang fielen nochmal 15 cm Schnee auf dem Stilfser Joch. Die Berliner mussten deshalb ungeplant oben übernachten. Am 23. Juni um acht Uhr morgens sah das Stilfser Joch so aus:

Stilfser Joch am 23. Juni 2024
Stilfser Joch am 23. Juni 2024

Einen Tag später wollte ich aufbrechen. Ich ahnte davon nichts. Manchmal ist es gut wenn man nicht zu viel weiß.


5. Tag: Von Mals nach Santa Caterina in Valfurva

5. Tag
Die Abbildung zeigt meine Tour am 5. Tag.

Bei herrlichem Wetter radelte ich zunächst auf dem Etsch-Radweg (identisch mit Claudia Augusta) bis Prad. Der Etsch-Radweg ist hervorragend ausgebaut und führt vom Reschensee, über Meran und Bozen bis nach Verona. Bei Prad biegt man Richtung Süden zum Stilfser Joch ab.

Ich war gut drauf, wollte hoch. Dachte nicht daran eine Pause einzulegen und den Akku aufzuladen. Das sollte sich noch rächen.

Das Stilfser Joch ist immer wieder eine beliebte Bergprüfung beim Giro D’Italia. Mit 2.757 Höhenmeter ist es der zweithöchste Alpenpass, ein wenig überragt vom Cole de Iseran (Frankreich) mit 2.764 Höhenmeter.

Ortles Hotel
Ortles Hotel

Es standen an: 24 Kilometer, 1.850 Höhenmeter mit einer fast konstanten Steigung von acht Prozent. Nach ca. acht Kilometer und bei Kehre 48 beginnt die Kurverei. Mit Beginn der Kehren teilt man sich die Straße mit Motorrädern und Autos. Gott sei Dank waren keine LKWs unterwegs, als Größtes – Wohnmobile.

Die ersten Kehren folgen dicht auf dicht. Die Zahlen werden schnell kleiner 48, 47, 46, 45.… Ich kurbelte mich mit einer Trittfrequenz von ca. 85 1/min den Berg hinauf. Das Überholen von Bio-Bikern beflügelte mich. Dann war ich bei Kehre 39. Schon eine 10-Stelle weniger. Kolonnen von Auto- und Motorrad-Clubs waren unterwegs, Porsche 911, Mazda MX5, Lotus Elise und Audi R8. Neben dem Stakkato der Motoren fauchten die Frontspoiler in den Haarnadel-Kurven.

Anfahrt zum Stilfser Joch von Norden
Anfahrt zum Stilfser Joch von Norden

Bei den Motorrädern beherrschte die BMW GS die Szene mit mehr als 50 Prozent, gefolgt von Ducati und KTM – unter ferner liefen japanische Joghurtbecher. Alle verhielten sich fair. Ich wurde weder bedrängt noch geschnitten. Bei Kehre 22 hatte ich die Hälfte der 1.850 Höhenmeter geschafft.

In den Kehren sitzen Fotografen. Im Internet kann man dann die Bilder kaufen:

In den Kurven sitzen Fotografen
In den Kurven sitzen Fotografen

Ich zählte weiter runter. Die 30er, die 20er, die 10er und dann einstellig. Ich war mit Kurven fahren, Kurbeln und Runterzählen so beschäftigt, dass ich die Zeit vergaß. Ich war im Kampfmodus. Die letzte Kurve nahte, Nummer Eins. … Und dann – Rien ne va plus – nichts geht mehr.

Nach Kehre Eins war Schluss. Ich hatte zwar vorher die Ladeanzeige ständig im Auge. Wechselweise hoffende und bangende Blicke ausgesendet. Es half nicht. Alle Akkus waren restlos leer. Die letzten 500 Meter und 60 Höhenmeter musste ich schieben.

Doch dann hatte ich das Stilfser Joch geschafft. Ich benötigte 2 ½ Stunden mit Pausen. Jan Ulrich braucht bei seiner Rekordfahrt 2015 mit dem Rennrad nur 1:24 Stunden.

Stilfserjoch
Stilfserjoch

»Die Königin der Passstraßen« und »Höchster Rummelplatz Europas« sind die beiden meist gebrauchten Beinamen für das Stilfser Jochs. Es herrschte ein großes Durcheinander: Wohnmobile, Autos, Motorräder, E-Bikes, Rennräder. Alles kreuz und quer und alle aufgeregt.

Es war kalt. Ich durchnäßt und euphorisch. Für Motorradfahrer hatte ich nur ein müdes Lächeln übrig.

Auch wenn es danach wieder runter ging, brauche ich Strom, da mein Motor beim Bremsen den Akku nicht auflädt. So war eine Steckdose für mich das Wichtigste. Die Bratwurststände, Souvenirläden, etc. mussten warten. Ach ja, da war doch noch was – mein Trikot! Das ich mir doch redlich erarbeitet hatte. Übrigens, Träger solcher Trikots heißen MAMIL – »middle aged man in Lycra« für mich wohl eher OMIL. Vielleicht noch ein paar Zahlen:

  • Jan Ulrich brauchte eine Dauerleistung von etwa 370 Watt
  • brauchte ich mit dem schweren Rad und Gepäck laut Rechnung 360 Watt, die sich natürlich auch E-Motor und meine Beine aufteilten

Vom Stilfser Joch aus kann man über zwei Routen nach unten gelangen. Eine führt über den Umbrai-Pass ins Müstair Tal im Kanton Graubünden. Die Zweite, meine Route, ging Richtung Bormio und der Lombardei.

Die Straße nach Bormio war steil und kurvenreich. Trotz Stotter-Bremsen hatte ich um die 40 Kilometer pro Stunde drauf. Ein Problem waren steifgefrorene Finger, das andere heiße Bremsscheiben. Wenn man auf eine Haarnadel-Kurve zufliegt, die Bremsen anfangen zu rubbeln und zu quietschen, ist das euphorische Gefühl schlagartig vorbei. Die einzige Abhilfe ist: Anhalten, Bremsen abkühlen und Finger wärmen. Meine Bremsscheiben wurden so heiß, dass sie sich verfärbt haben. Eine ganz dumme Idee ist die Temperatur der Bremsscheibe mit den Fingern zu kontrollieren. Denn dann hat man neben steifen Fingern auch noch Brandblasen.

Straße nach Bormio
Straße nach Bormio

Bormio ist ein bekannter Wintersportort in der Lombardei. Hier finden Rennen des Ski WeltCups statt. Ansonsten eine nettes kleines Städtchen mit Modeboutiquen, Sportgeschäften, Bars und Restaurants.

Ohne Umwege ging ich in eine Bar. Akku laden stand an. Denn es lagen noch ca. 15 Kilometer und 500 Höhenmeter zu meinem Ziel Santa Catarina in Valfura vor mir.

Im Ort Bormio
Im Ort Bormio

Meine Beine wurden schwer und so bin ich die letzten Kilometer im Turbo-Modus geradelt. Wenn der Tages sich neigte, war Stromsparen nicht mein Ding. Es war Vorsaison, und ich bekam eine Suite mit Badewanne. Danach aß ich entspannt Risotto.

Santa Caterina Valfurva ist ein Wintersportort und den Bergsteigern bekannt, durch Achille Compagnoni, einer der Erstbesteiger des K2 von 1954, dem zweithöchsten Berg der Erde.


6. Tag: Von Santa Caterina in Valfurva nach Paisco

6. Tag
Die Abbildung zeigt meine Tour am 6. Tag.

Der Gavia Pass verbindet Bormio mit Ponte di Legno. Er ist seit der Steinzeit bekannt. Besonders die Venezianer nutzten ihn im Mittelalter. Heutzutage hat er seine ursprüngliche Bedeutung verloren. Auch der Gavia Pass wird als Bergprüfung beim Giro D’Italia befahren. 2024 war es wieder soweit.

Passo Gavia
Passo Gavia

Der Tag begann mit Regen. Und so unterhielt ich mich zunächst mit Hamburger Motorradfahrern. Als aus Regen Nieselregen wurde, startete ich. Manchmal habe ich geringe Ansprüche.

Einige MAMIL-Gruppen waren unterwegs. In ihrem Schlepptau hatten sie Verpflegungs- und Materialwagen. Ich beneidete sie um ihren warmen Tee und die Bananen.

Ich musste 1.400 Höhenmeter und zehn Kehren überwinden. Je mehr ich mich dem Gavia Pass näherte umso mehr ging der Nieselregen wieder in Regen über. Obwohl die Sommersonnenwende bereits überschritten war, lag noch ordentlich Schnee. Doch deutlich weniger, als am 2. Juni 1988, der als kältester Tourtag in der Geschichte des Giro D’Italia einging. Da hatte ich es doch vergleichsweise kommod. Trotzdem kam ich reichlich verfroren oben an.

Der Regen nahm zu und die Hütte füllte sich mehr und mehr. Spaghetti Bolognese ist immer gut, auch gegen Kälte. Und wenn man das noch mit Espresso und Tirammisu krönen kann, dann ist Alles gut. Fast. Denn eine eher dumme Idee war, bei Regen die Satteldecke auf dem Fahrrad zu belassen.

Auf der Fahrt nach Ponte di Legno war das Wetter auch nicht viel besser. Es blieb kalt. Die Strecke war steil und kurvenreich. Jedoch, je tiefer ich kam desto mehr nahm der Regen ab und die Landschaft wurde lieblicher. Auch hier wieder, Stotter-Bremsen, Anhalten und Finger kneten. Und Finger weg von der Bremsscheiben!

Auf der Fahrt nach Ponte di Legno
Auf der Fahrt nach Ponte di Legno

Ponte di Legno wird eingerahmt durch drei Bergmassive: im Osten die Ortler Gruppe, im Westen die Gavi Gruppe und im Süden der Adamello. Auch Ponte di Legno ist ein Wintersportort.

Alle Wintersportorte sind in der Zwischensaison fast ausgestorben. Jedoch entwickelt sich in allen ein Fahrrad-Tourismus. Einerseits durch hervorragende Radwege und andererseits durch entsprechende Infrastruktur, wie ausgewiesene Fahrradstrecken, Fahrradgeschäfte oder Bike-Taxis.

Im Gegensatz zu Südtirol und den Dolomiten habe ich in der Lombardei keine Almen gesehen. Auch fehlen die schroffen Felsen oberhalb der Baumgrenze. Die Täler sind enger, die Flanken steiler und komplett bewaldet. Die Dörfer sind etwas bedrückend, zumindest in der Nebensaison. Ich sah Alte und kleine Kinder. Aus Reiseführern erfährt man, das Hannibal, die Römer und die Langobarden sich hier herum trieben. Aber man erfährt nicht, wie und von was die Menschen heute hier leben.

Entspannt radelte ich am Nachmittag durch die Lombardei parallel zum Fluß Olgio. Fahrradwege an Flüssen sind wunderbar. Sie haben meist angenehme Steigungen bzw. Gefälle.

Ich verließ die Richtung Süden gehende Hauptroute und hielt mich mehr westlich in Richtung Passo Vivionne. Aus dem Flusstal stieg ich 500 Höhenmeter hoch zu meinem Nachtquartier. Es klappt eben nicht immer mit Hotels im Tal. Und dann der Albtraum. Die Ferienwohnung ist verschlossen, der Schlüssel nicht zu finden und der Code des Schlüsseltresors falsch. Anruf, Entschuldigungen und eine sympathische Italienerin – Elisa kam und öffnete die Tür zu einem wahren Palast.

Die Schränke waren mit Nudeln und Spagetti gefüllt. Im Kühlschrank waren Dosen mit Tomatensoße. Der Krämerladen war bereits geschlossen. Jedoch, mit Hilfe von Elisa konnte ich in einer Bar doch noch eine Flasche Rotwein ergattern. Was braucht man mehr?

Am nächsten Morgen hatte der kleine Krämerladen geöffnet, nicht mehr als 20 m² jedoch angefüllt mit allen Dingen die ein Italiener wohl so benötig: Brot, Butter Obst, Klopapier, Putzmittel, Rotwein und Präservative.


7. Tag: Von Paisco nach Esine

7. Tag
Die Abbildung zeigt meine Tour am 7. Tag.

Paisco, so heißt der kleine Ort in dem ich übernachtet hatte, ist kleiner als Ulsnis. Die Tour ging weiter durch die Provinz Brescia mit dem Ziel Esine. Auf mich warteten noch zwei Pässe der Passo del Vivionne und Croce di Salven.

Passo del Vivionne
Passo del Vivionne

Der Passo Vivionne liegt auf 1.827 Höhenmeter, die maximale Steigung beträgt 12 Prozent. Der Croce di Salven ist kein wirklicher Pass, eher eine Hügel bzw. Hochebene auf 1.100 Höhenmeter.

In Schilparion sah ich das einzige Kolumbarium auf meiner Tour. Kolumbarium bedeutet ursprünglich Taubenschlag. Altrömische Grabkammern für Urnen wurden so benannt. Heute sind Kolumbarien oberirdisch Grabstätten, wie auf dem Bild:

Kolumbarium
Kolumbarium

Sollte ich gedachte haben, dieser Tag würde gemütlich enden, so hatte ich mich gewaltig geirrt. Esine liegt im Tal auf ca. 280 Höhenmeter. In nur wenigen Kilometern musste ich 800 m nach unten. Das Gefälle war streckenweise mehr als 20 Prozent. Ich bekam öfters das Gefühl, ich würde gleich über den Lenker absteigen. Nur meine Sattelverstellung hielt mich zurück.

Alle Restaurants in Esine hatten geschlossen. Es regnete und so aß ich Pizza in der Pizzeria, in die ich ursprünglich nicht wollte.


8. Tag: Von Esine nach Anfo am Lago D'Idro

8. Tag
Die Abbildung zeigt meine Tour am 8. Tag.

Der achte Tag sollte die Hammer- bzw. die Königsetappe werden, was ich zu Beginn noch nicht ahnte. Das Ziel war Anfo am Lago D’Idro. Der Anstieg war 30 Kilometer lang. Zu den 800 Höhenmeter die ich am Vortag verloren hatte kamen nochmals 1.000 Höhenmeter oben drauf, also in Summe ging es um 1.800 Meter.

Das erste Mal war es sonnig und heiß.

Der Anstieg zum Passo Crocededomino war ätzend. Aus Esine heraus kommen kurze, heftige Steigungen mit bis zu 20 Prozent. Danach wurde es fast gemütlich bei 10 Prozent.

Passo Crocededomino
Passo Crocededomino

Die heftigen Anstiege am Anfang brauchten Strom, und so habe ich bereits nach zehn Kilometer die erste Pause zum Nachladen gemacht. Es zog sich. Im Gegensatz zum Stilfser Joch konnte ich mich nicht am Runterzählen von Zahlen orientieren. Oder mich am Überholen von Bio-Bikern erfreuen.

Am Crocededomino gab es dann Spagetti und Bier. Die Jausen an den Passübergängen hatten immer fabelhaftes Essen – Spagetti und Nudeln in allen Variationen zu vernünftigen Preisen. Vom Wein habe ich die Finger gelassen.

Der Crocededomino war noch nicht der höchste Punkt, danach ging es nochmal sieben Kilometer weit und 300 m bergan zum höchsten Punkt, dem Giogo della Bala. Ich fand den gesamten Anstieg deutlich unangenehmer als das Stilfser Joch.

Ab dem Giogo della Bala ging es weiter über eine acht Kilometer lange Schotterpiste. Die Piste war wegen einer Murre für Autos gesperrt. Nur ein oder zwei Motorradfahrer mit ihren Cross-Maschinen waren noch unterwegs. Der Straßenrand war ungesichert. Durch die groben Steinen war es schwer das Rad in der Spur zu halten. Ich dachte nur, wenn Du jetzt den Abflug in die Botanik machst, wirst’s lange dauern bis einer kommt um dich aufzusammeln.

Die Brescianer Voralpen sind eine schöne Berglandschaft mit Gipfel um die 2.000 Meter. Die Gaver-Hochebene ist mit alpinen Orchideen überseht. Die alte Radarstation war ein Nato-Stützpunk und ist seit etwa zehn Jahren verlassen. Die Luft war kühl, der Himmel blau, und so hatte ich eine gute Fernsicht. Ein Vorteil, wenn es nicht so heiß ist.

Und dann schimmerte der Lago D’Idro zwischen Bergen und Bäume hindurch. Südliche Gefühle kamen auf. Ich konnte den Gardasee schon fast riechen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Anfo liegt auf 370 m. Ich mußte also gut 1.000 m runter. La Dolce Vita mußte warten.

Nach dem langen Anstieg, der Schotterpiste, einem Abschnitt, bei dem es immer wieder rauf und runter ging, kam nun die Steilabfahrt. Es waren streckenweise mehr als 20 Prozent bis fast 30 Prozent Gefälle über viele Kilometer. Zusätzlich waren die Straßen auch noch schlecht.

Es kam wieder die Frage auf: »wie steigt man eigentlich von einem Fahrrad ab – mit einem Salto über den Lenker oder seitwärts mit hohem Bein?« Zusätzlich schliefen mir die Hände ein. Hin und wieder hat ich auch das Gefühl – rauf geht es leichter, so wie beim Wandern.

Der Lago D’Idro, ist ein Kleinod oberhalb des Gardasees. Er liegt 320 m höher und westlich vom Gardasee. Er ist zehn Kilometer lang und circa einen Kilometer breit.

Mein Hotel lag direkt am Ufer. Es war warm und ich konnte das erste Mal auf einer Terrasse zu Abend essen. Ich war ziemlich fertig und froh, dass es Morgen nur 40 Kilometer bergab nach Salo gehen würde.

Mit mir war auch eine deutsche MAMIL-Rennrad-Gruppe im Hotel. Ein Hallo oder ein Gespräch kam nicht zustande. Vielleicht sind ja E-Biker für Rennrad-Fahrer Aussätzige oder haben gar Lepra?


9. Tag: Von Anfo am Lago D'Idro nach Riva del Garda

9. Tag
Die Abbildung zeigt meine Tour am 9. Tag.

Ich bin kein Fan von Ruhetagen, anstelle dessen bevorzuge ich leichte Etappen, wie die nach Salo. Es waren noch 40 Kilometer bis nach Salo. Ich musste jedoch pünktlich dort sein. Denn die Fähre nach Riva del Garda fährt nur einmal am Tag. Ich nahm die Strecke durch das Val Sabbia längs des Flusses Chiese und diesmal nicht über den Berg. Es ging bergab und es war warm. Nach einiger Zeit konnte ich den Gardasee sehen. Ich erreichte den Ortsrand von Salo, schlängelte mich durch den morgendlichen Berufsverkehr. Und dann …

Am Gardasee
Am Gardasee

… stand ich nach neun Tagen, morgens um 10 Uhr am Gardasee. Ich startete in den Tag hinein mit Prosecco. Die Promenade von Salò versprüht den Charme der Fünfziger- und Sechziger-Jahre. In den Cafes saßen ältere Damen, im Christbaum-Look und Pudel, sowie ältere Herren, im weißem Leinenanzug, Strohhut und Einstecktuch. Ein wenig Tod in Venedig.

Promenade von Salo
Promenade von Salo

Nachdem Mussolini im Juli 1943 vom König Victor Emanuel abgesetzt wurde gründete er in Salo die Repubblica Sociale Italiana. Der Einflussbereich beschränkte sich auf die von deutschen Truppen besetzten italienischen Gebiete. Im April 1945 war Schluss. Mussolini und seine Geliebte Carla Petacci flüchteten, wurden von Partisanen ergriffen und erschossen.

Der Gardasee hat eine Fläche von 370 Quadratkilometer und ist 346 m tief. Der Bodensee zum Vergleich, hat eine Fläche von 536 Quadratkilometer und ist 256 m tief. Der Gardasee ist der größte italienische See, der Bodensee der größte in Deutschland.

Im Westen wird der Gardasee von steil abfallenden Felsen eingerahmt. Die Straße verläuft dort größtenteils in Tunnels und Viadukte. Für Fahrräder sind sie gesperrt. Das macht auch die westliche Anfahrt nach Riva del Garda mit dem Fahrrad etwas komplizierter.

2023 herrschte Wassernotstand. Im Frühsommer 2024 war es genau umgekehrt. Durch die starken Regenfälle war der Gardasee randvoll wie seit 70 Jahren nicht mehr. Einige Ortschaften am Ufer hatten Probleme mit ihren Abwässern, sie wurden zurück gedrückt. Die Überfahrt von Salo nach Riva del Garda dauert circa vier Stunden und kostet 17 €.

Zwischen den steilen Felsen liegen Ortschaften mit wunderbaren Namen: Gargano, Campione, Limone sowie sandige Buchten. Siebenmal legt die Fähre an.

Die gebuchte Ferienwohnung war im Keller und eine fensterlose Zumutung. Ich stornierte und fand das fantastische und familiengeführte Hotel Virgilio, um die Ecke. Es war das erste Hotel, das auf Fahrradfahrer eingerichtet war. Denn der Patron ist selber begeisterter Rennradfahrer. Den Rest des Tages entspannte ich am Pool, mit Aperol Spritz in der Hand und der Frage »Kann ich mich für weitere drei Tage motivieren?«


10. Tag: Von Riva del Garda nach Pinzolo

10. Tag
Die Abbildung zeigt meine Tour am 10. Tag.

Der Gardasee war das Hauptziel – jedoch nur ein Zwischenstop. Nach einem unglaublich Frühstücksbuffet warteten nochmals drei Tage mit 170 Kilometer und einigen Höhenmetern auf mich. Riva del Garda liegt auf nur 70 Meter über dem Meeresspiegel und mein Ziel liegt in den Bergen auf 1.400 Metern.

Ich radelte durch Obst- und Weinplantagen. Mal kam ein kurzer Anstieg mal eine kleine Abfahrt. Die Fahrradwege wie das Wettere waren perfekt. Das erste Mal waren richtig viele Fahrradfahrer unterwegs.

Und dann ging’s wieder hoch. Die Straße stieg steil an und folgte dem Fluß Sacra nach Nordwesten. Die klassische Nord-Süd Verbindung geht durch das Eissacktal. Meine Route verlief westlich davon, zwischen Brenta und Adamello. Oberhalb der Sacra ging es dann ganz gemütlich weiter.

In Stenico aß ich zu Mittag. Skurril war, dass in der Trattoria bayrisches Bier aus Kloster Weltenburg serviert wurde. Mein Ziel war Pinzolo am südlichen Rand der Brenta. Dort, in einer Eisdiele verfolgte ich das Fußballspiel Italien gegen die Schweiz. Die Schweiz gewann 2:0. Lernte ich in Österreich auch Jubelschreie kennen, so reduzierte sich dies bei den Tifosi auf Schimpfworte und passenden Gesten.


11. Tag: Von Pinzolo nach Romallo

11. Tag
Die Abbildung zeigt meine Tour am 11. Tag.

Meine Route nach Norden und ins Nonstal verlief weiter an der Sacra entlang und durch Wälder. Sie stieg stetig an und war angenehm zu radeln. Trotzdem habe ich 800 Höhenmeter überwunden. Die Brenta war leider wolkenverhangen, auch regnete es leicht.

Die Brenta ist räumlich abgesetzt von den Dolomiten, gehört geologisch jedoch dazu. Und ist Teil des UNESCO Weltnaturerbe Dolomiten.

Der höchste Berg ist 3.125 m hoch. Die Brenta ist vor allem bekannt für ihre Via Ferratas – die Eisenwege. Klettersteige die über lange Leitern die horizontal verlaufenden Bänder verbinden. Im Sommer kommt es an den Leitern immer wieder zu langen Staus. Es gibt auch einen kleine Population von Braunbären.

Madonna di Campiglio ist primär ein Wintersportort. Außerhalb der Saisons, ist es halb so groß wie der Ohlsdorfer Friedhof aber doppelt so tot. Mit Madonna di Campiglio hatte ich den Scheitelpunkt von ca. 1.650 Höhenmeter erreicht. Die Strecke fiel nun stetig. Auf dem gut ausgebauten Fahrradweg ging es Richtung Norden entlang der Torrente Noce ins Nonstal.

Eine Bogenstaumauer staut den Fluß Torrente Noce auf. Sie wurde von 1946 bis 1950 gebaut. Bei der Einweihung 1951 war sie mit einer Gesamthöhe von 152,50 Metern die höchste Talsperre Europas. Auf dem Stausee darf man Segeln und Surfen.

Ich mußte noch ein paar Kilometer weiter bis Ramallo. Die Landschaft war lieblich, Weinberge und Apfelplantagen umgaben mich. Ich war guter Stimmung und folgte meiner TopoGPS-Route blind. Knapp zehn Kilometer lagen noch vor mir. Das Navi zog mich von der Hauptstrasse weg und plötzlich ragte eine gewaltige 30-Prozent-Rampe vor mir auf. Zusätzlich war ich auch noch im falsch Gang. Von oben kamen mir junge Italiener auf Downhill-Rädern entgegen, die mich etwas ungläubig ansahen. Anstelle zurück zu fahren und der Straße weiter zu folgen, quälte ich mich im Schiebemodus die Rampe hinauf. Digitale Selbstversklavung würde ich sowas nennen wollen.

TopoGPS versucht Hauptstraßen zu meiden. So passiert es, dass man im Zick-Zack-Kurs durch Orte radelt oder auf scheinbar fahrbare Abkürzungen.

Leider war die Pension trotz Navi nur nach zusätzlichen Schleifen und Kilometern zu finden. Das ist der Vorteil eines E-Bikes – man macht das dann mal eben.

Den Abend verbrachte ich auf der Terrasse und trank literweise unglaublichen Apfelsaft. So wie ich ihn liebe, mit einer leichten Note von Birne.

Sprachlich ist das Nonstal heterogen. Es ist die südlichste Gegend in der noch Deutsch gesprochen wird, hauptsächlich jedoch Italienisch. Politisch gehört es zum Trentino und nicht zu Südtirol.

Das Nonstal ist touristisch wenig erschlossen. Es ist eingeklemmt zwischen Mendelkamm im Norden, dem Adamello im Westen und der Brenta im Osten. Eigentlich ist es nur vom Süden her zu erreichen. Es ist eine einzige Apfelplantage. Der Frühling muss großartig dort sein.

Das Nonstal
Das Nonstal

Das Obst-Konsortium Melinda mit seinen über 5.000 Mitgliedern produziert im Jahr über 400.000 Tonnen Äpfel: Golden Delicious und Red Delicious sind die typischen Sorten. Wieviel Äpfel sind das? 4 x 1.000 x 400.000 = 4 x 103 x 400 x 103 = 1.600 x 106 = 1,6 x 109 = 1,6 Mrd. Äpfel.


12. Tag: Von Romallo nach St. Walburg

12. Tag
Die Abbildung zeigt meine Tour am 12. Tag.

Am zwölften Tag wollte ich die Tour ausklingen lassen mit schlanken 40 Kilometer. Es begann ganz moderat bei Sonnenschein. Es kamen wieder kurze, steile Anstiege. Frühsport in den Apfelplantagen (Foto), so wie ich ihn bereits kannte. Doch dann setzte Regen ein. Den langen Anstieg von 1.400 Höhenmeter hatte ich komplett ausgeblendet, auch die Steigung von mehr als zehn Prozent. Die Tage vorher dachte ich, die 40 Kilometer machst du auf einer Backe. Doch wenn der Regen in Gewitter übergeht, dann wird die Strecke länger und die Steigung steiler, meint man.

Apfelplantagen
Apfelplantagen

Ich mußte zusätzlich auch noch über eine kahle Bergkuppe. Ich hatte keine Lust, Blitzableiter zu spielen und stellte mich kurz vor der Baumgrenze notdürftig unter einen Baum. Das Gewitter zog zwischen den Tälern hin und her. Ich wurde naß und nässer. Gebannt schaute ich auf Pfützen, um zu sehen ob der Regen nachläßt. Irgendwann war es mir egal. Ich radelte los und glaubte, nur der Regen sei mein Gegner. Doch da irrt ich. Nach einem kurzen Anstieg kam eine kilometerlange und steile Abfahrt über ausgewaschene und verschlammte Waldwege. Die Packtaschen machte die Handhabung des Fahrrades nicht leichter. Es war ein heißer Ritt.

Auf der Teerstraße war es nicht viel besser. Das Wasser stand überall und besonders hoch in den Senken. Ich wollte nur noch ins Hotel. Ich war naß bis auf die Radler-Unterhose.

Im Tal ging es über Wald- und Schotterwege. Ich nahm eine Abkürzung zur Hauptstrasse. Und es kam wie es kommen mußte – eine Rampe mit knapp 30 Prozent Steigung lachte mich an. Mit einmal Absteigen hatte ich auch das geschafft. Denn die Herausforderung ist, nach einem Stop wieder in Schwung zu kommen. Die restlichen fünf Kilometer zum Hotel bin ich dann wie ein Berserker geradelt. Was als Ausklang dacht war, wurde zum Härtetest.

Am 1. Juli um 14 war meine Tour – und ich – fertig. Ich ging zur Rezeption sagte »Grüß Gott«, schnappte meinen Schlüssel, übergab mein Fahrrad samt Gepäck und ging aufs Zimmer. Ich ließ heißes Wasser einlaufen und verbrachte die nächste Stunde in der Badewanne.

Da ich Einzeletappen plante, kannte ich das gesamte Streckenprofil, wie hier zu sehen ist, nicht. Wahrscheinlich war das auch gut so. Ich habe es erst bei der Vorbereitung des Vortrages erstellt.

Mein Streckenprofil meiner Tour
Das Streckenprofil meiner Tour

Dieser Zyklus, sich den Berg raufzuquälen und wieder bergab zu rollen, … hat schon etwas von Sysiphos. Und so möchte ich meinen Vortrag mit einem Satz von Albert Camus beschließen: »Wir müssen uns Sysiphos als einen glücklichen Menschen vorstellen!«.


Was hat sich bewährt was hat sich weniger bewährt?

Im Beraterjargon heißt so eine Folie »lessons learned«. Bewährt hat sich

  1. Das E-Bike. Mit ihm schafft man 70 bis 90 Kilometer, beim Wandern nur 15 bis 20 Kilometer pro Tag.
  2. Ein Zusatzakku für die langen Pässe, ansonsten muss man häufiger pausieren um nachzuladen.
  3. Es gibt Tonnen von Routenplanern. Ich kam mit TopGPS sofort intuitiv zurecht, die vorgeschlagenen Strecken waren durchweg gut. Bis auf ein paar Überraschungen.
  4. Mit dem iPhone/Smartphone kann man alles machen. Man muss nur darauf achten, das Navigieren sehr viel Strom verbraucht. Man kann es am E-Bike Akku laden.
  5. Nicht 120 Prozent planen. Einfach los und glauben es wird schon alles gut gehen. Das E-Bike unterstützt einen dabei.
  6. Ich finde mittlerweile Radeln in den Bergen angenehmer. Man muss sich bergauf anstrengen, doch runter gehts leichter. Im Flachland muss man ständig treten.

Das hat sich weniger bewährt:

  1. Ein Fahrradschloss ist zu schwer. Ein dünnes Drahtseil mit Schloss gegen schnelles Klauen reicht.
  2. Ich würde beim nächstem Mal die Hotels nicht vorbuchen. Das gibt einem eine größere Flexibilität.
  3. Bei den meisten Hotels musste ich mein Fahrrad in Kellerräumen abstellen, die nur über Treppen erreichbar waren. Ein kleiner Gummikeil hilft, um die Tür zu aufzuhalten.
  4. Im Gegensatz zum Wandern lernt man kaum Leute kennen.

Die Kosten betrugen 110 bis 140 € pro Tag, ohne An- und Abreise. Grundsätzlich kann man sagen, man schafft mehr als man glaubt.

Kehren wir zum Anfang des Vortrages und seinem Untertitel zurück. Mit der Demokratisierung der Alpenpässe durch das E-Bike meine ich: Ich muss nicht Jan Ulrich sein und Dr. Fuentes nicht mein Hausarzt. Statt Biochemie – Vorsprung durch Technik.

P.S. Gerne stelle ich die GPS-Daten und Listen zur Verfügung. Für die Schnellen: Die KML-Datei mit meiner Route für Google-Earth (Datei > Öffnen) gibt es hier im Download. Sie ist 723 kB groß.